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Expeditiontagebuch Spitzbergen

Irgendwo im Eis, keine Ahnung welcher Wochentag, 05.06.05

Wir sind genau da wohin wir wollten: Mittendrin im Eis, – soweit der Horizont reicht. Der Ice Report sagt „Open Water“. Angeblich können die Satelliten sogar Autonummernschilder erkennen, – nur Eisfelder von mindestens 50 Seemeilen Durchmesser anscheinend nicht. So langsam wird mir klar warum Herr Bush so viele Kolateralschäden produziert. Wahrscheinlich geht es theoretisch, doch in der Praxis funktionierten die Satelliten, wie wir feststellen müssen, eben nicht. Sonst wären ja auch alle Politessen überflüssig. Das würde dann ein Computer automatisch, deutschlandweit, gleich mit Satellitenbeweisfoto machen. Geht ja, theoretisch eben.
Aber jetzt der Reihe nach.
Von Tromsö zur Bäreninsel gab´s erst mal wieder was auf die Mütze, Nordwest 5-6 in Böen 7, See 3 Meter, Wasser 2, Luft 3 Grad Celsius, aber das sind wir auch nicht anders gewohnt und in unseren Überlebensanzügen ist es kuschelig warm. Obwohl, manchmal mache ich mir schon Gedanken, ob das noch als Erholungsurlaub durchgehen kann. Immerhin, nach einem Tag dreht der Wind dann auf Südwest 3 – 4 und wir können anliegen. Am Kap Kolthof, der Südspitze der Bäreninsel, bewundern wir einen rund 200 Meter langen, vom Meer durchgespülten Tunnel namens Perleporten. Fantastisch was Architekt Natur so alles baut. Kurz danach fällt der Anker auf 4 Meter in der Walrossbucht, die vor südlichen und westlichen Winden Schutz bietet und die einzige Stelle im Süden ist, an der man auf die Insel gelangt. Das Schlauchboot wird klargemacht und anschliessend starten wir eine ausgiebige Erkundungstour, immer auf der Hut vor Eisbären. Obwohl der Permafrostboden überwiegend mit dickem Firnschnee bedeckt ist, wachsen und blühen auf den freien Stellen schon verschiedene Pflanzen. Überall an den Felsen brüten Eissturmvögel, Krabbentaucher, Gryllteiste und andere Vögel, die fast ohne Scheu um uns herumlaufen und -fliegen. Das Miseryfjellet mit dem 536 Meter hohen Urd ist von mehreren Metern hohem Schnee bedeckt, der in der Sonne aufgeweicht ist und leider keine Besteigung zulässt. So begnügen wir uns mit dem Ausblick auf das imposante felsenbewehrte Bergplateau. Wir rasten auf einem moosbedeckten Hügel und in der warmen Sonne schläft einer nach dem anderen ein.
– Eisbär!!! Nein wir sind nur aufgeschreckt, aber so etwas darf nicht nochmal passieren, denn obwohl wir keine Spuren gesehen haben, lauert doch die Gefahr. Über das weitgehend schneebedeckte, hügelige Gelände lassen sich die Bären auch nur schwer ausmachen, sodass sie unbemerkt heranschleichen könnten.
Auf dem Rückweg besichtigen wir die Überreste einer bis 1908 betriebenen Walfangstation mit ihren Dampfwinden zum anlandziehen der abgeschlachteten Wale. Die Walknochen lassen auf grosse Beute schliessen. Die Walrosse wurden schon 1609 fast ausgerottet, an einem einzigen Tag bis zu 600. Der Rest wurde dann im 20zigsten Jahrhundert erlegt. Heute gibt es hier keine Walrosse mehr und vom einst zahlreichen Polarfuchs sind nur eine Handvoll übriggeblieben. Die fast ausgerotteten Vögel, bis 1970 wurden hier bis zu 70.000 Vogeleier jährlich gesammelt, sind Gottseidank wieder zahlreich zurückgekehrt. Anscheinend war es gar nicht so einfach diese Insel in eine leblose Welt zu verwandeln und es werden noch Jahrhunderte vergehen bis, unter den hier herrschenden Bedingungen, der ursprüngliche Zustand wieder erreicht wird.
Den zweiten Landfall machen wir bei Tunheim, einer im Nordosten der Insel gelegenen und im Jahr 1925 verlassenen Bergbausiedlung. Wir ankern in der ungeschützten Bucht. Das Anlanden an der einzig möglichen Stelle, einer Bachmündung mit 20cm groben Kies und steil ansteigendem 20 m breiten Strand, dessen Zufahrt durch Unterwasserfelsen versperrt wird, ist nicht ungefährlich. Nachdem wir das Schlauchboot den Strand hochgeschleppt haben, wandern wir über unwegsames Gelände, Bäche und weiche Schneegriesfelder zur ehemaligen Kohleverladestelle und folgen dort den Schienen der Lorenbahn nach Tunheim. Eine einsame Lore steht noch vor dem zusammengebrochenen Holzsilo, selbst die Schienen sind bereits durchgerostet.
Nach 2 Kilometern Fussmarsch erreichen wir Tunheim. Alles erinnert stark an eine verlassene Goldgräbersiedlung, oder an eine offenliegende Ausgrabungsstelle. Immerhin wurden hier insgesamt 116.000 Tonnen Kohle gefördert. Ein seltsames Gefühl stellt sich ein, wenn man sich vorstellt wie es früher hier wohl ausgesehen hat und unter welchen Bedingungen die Menschen damals gelebt haben. Das Gelände wirkt heute wie ein grosses Grab nach einem atomaren Unfall oder einer ähnlichen Katastrophe aus, leblos und dem Verfall preisgegeben. Nachdenklich machen wir uns auf den Rückweg, vorbei an der alten Telegraphenstation, die 1941 von den Briten gesprengt wurde.
Beim Ablegen ist wieder körperlicher Einsatz gefordert. Nach einer Fotorunde ums Schiff wird das Schlauchboot an Deck gehievt und gelascht. Anker auf und los geht’s, – Spitzbergen voraus.
Endlich kommt der Wind mal richtig. Erst S 3 dann ENE drehend auf 6 kn. Wir segeln mit 9 kn ( das sind bei uns Seemeilen pro Stunde und nicht die zweifelhaften „Rekordspitzenwerte des GPS, 12 Kn 0.000000234 Sekunden die Welle runter o.ä.), uns gut westlich vom Sörkapp haltend, dem Südende von Spitzbergen entgegen. Am Ende erreichen wir sogar 9.9 kn am Wind, dank der immer kleiner werdenden Welle. Kurz danach ist dann auch die Packeiskante auf 75° 50´N in Sicht. Im Abstand von einer halben Meile folgen wir dieser, kleineren und grösseren Eisschollen ausweichend. Allerdings erwischen wir ab und zu schon mal Brocken von einer Tonne, die dann mit knapp 8 kn gegen den Rumpf krachen und unter oder seitlich am Schiff vorbeigedrückt werden. Das ist jetzt Ni mehr für Joghurtbecher! Mit der Zeit wird die Eiskante immer undeutlicher und wir durchqueren den einen um den anderen Eisriegel, der sich wie ein langer Finger ins freie Wasser streckt. Nur der letzte hört dann nicht mehr auf. Wie gesagt, das Eis reicht jetzt in allen Richtungen bis zum Horizont. Allerdings ist die Wetterlage stabil und der Eisbedeckungsgrad 3 bis 4 zehntel der Wasseroberfläche, so dass keine Gefahr besteht. Um es kurz zu machen, wir müssen am Ende auf unserem über 120 Meilen langen Zickzackkurs doch über 50 Meilen vom Land wegfahren und erreichen erst auf 77° 20´N wieder offenes Wasser. Unser erstes Ziel der Hornsund ist, wie wir feststellen müssen, leider gestorben, denn wir würden vielleicht durch das „Oben Drift IC“ reinzogen, falls der Wind dreht, aber auf unbestimmte Zeit in der Eisfalle sitzen und Eispressungen ausgesetzt sein. Also steuern wir den wenig bekannten Bleust an, der noch eisfrei ist. Vorbei an der alten Trapperstation Calypsobyen gehen wir in Vestervaag am Rechercheuren (Brenn = Gletscher) vor Anker. Eine sagenhafte Kulisse im Sonnenschein: Gletscher, Eis und Berge. Dazu reichlich Eisbärenspuren, die uns erst mal vom geplanten Landgang abhalten. Nach dem Gute Nacht Single Malt ( einer!), verriegeln wir das Schiff von innen, denn für Eisbären, die gewöhnlich auf Packeiskanten und Eisberge klettern, ist es ein Leichtes, an Bord einer Jacht zu klettern. Ein Blick auf die Uhr verrät das es 03.30 Uhr Nachts ist, was uns bei dem strahlenden, wärmenden Sonnenschein gar nicht aufgefallen war. Die Tageszeiten spielen schon seit geraumer Zeit keine Rolle mehr. Man isst, wenn man hungrig ist und schläft, wenn man müde ist bzw. Freiwache hat. Nachts kontrollieren wir alle zwei Stunden die Eislage. Man kann durch den Schiffsboden das Eis vom Gletscher „singen“ hören, ein Geräusch das etwas an eine singende Säge erinnert. Morgens, also ehrlicherweise eigentlich nachmittags um 14.00 Uhr, müssen wir Anker auf gehen, da Meereis in die Bucht gedrückt wird. Dabei werden wir ausgiebig von einer Horde Walrosse beäugt die neugierig ums Schiff schwimmt. Ein wirklich schöner Tagesbeginn.

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