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Expeditiontagebuch Spitzbergen

Ebeltoftbukta, der 22.06.05

Schiefergraues Meer liegt glatt und träge vor uns. Eine alte, sehr lange Dünung rollt von Südwesten an. Berge mit Mützen und Schals aus Nebelschwaden an Backbord. So stelle ich mir den Rand der Welt vor. Irgendwo hinter dem Horizont fliesst das Meer über den Rand ins Nichts. Wie mag es hier in der ewigen Nacht des Winters sein? Im Nebel und mit Packeis? Gedanken an Hieronimuss Bosch ziehen auf.
Eine kleine, kreisrunde, ungastliche Bucht taucht an Backbord auf. Wie mit dem Locher in die Küstenlinie gestanzt liegt sie da. Hamburgbukta. Die Einfahrt ist vielleicht 30 Meter breit, an beiden Seiten felsenbewehrt und soll zwei Meter tief sein. Bei halber Flut mit 2,1 Meter Tiefgang versuchen wir es. Hart setzt Tordas in der Dünung auf den nur 1,6m tiefen Felsen. Gut, dass er aus Cortenstahl ist. Schade, die Hamburgbukta verwehrt uns den Zutritt.
Krossfjord, Ebeltoftbukta. Alle sind erschöpft, schlafen ist angesagt. Der Morgen (?) empfängt uns mit strahlendem Sonnenschein. Landgang, wie immer mit dem ganzen Gerölle. Zwei Gewehre, Signalpistole, Munition, Fernglas, zwei Spiegelreflexkameras, Objektive, Videokamera, Stativ, Kekse, Wasserkanister, Hund, Hundeleine, Rucksack. Heute, weil so schönes Wetter, ist ohne Überlebensanzüge. Das Schlimme ist nicht die Menge an sich, sondern dass immer alles griffbereit sein muss. Nach zehn Minuten hängt einem alles um den Hals, eine gute Übung für alle die sich mal aufhängen wollen. Das Gewehr sollte immer ganz oben hängen, sonst lacht sich der Eisbär tot, wenn er bei der Knotenbildung um den Hals zusieht. Und das wiederum ist verboten weil Eisbären unter strengem Schutz stehen. Zumindest hier.
Wir finden die zerstörten Reste einer Wetterstation aus dem ersten Weltkrieg. Eine Hütte ohne Wände, ein explodierter Ofen in der Ecke, als Türschwelle ein Stein in den „Velkommst“ eingeritzt ist, daneben liegt der alte Türriegel, das ganze Dach etwa 20 Meter weiter. Und natürlich die obligatorische Walfangstation aus dem 17ten Jahrhundert. Weiter hinten liegt der Friedhof. Einsame Steingräber in der endlosen Einöde. Ich stelle mich vor ein Grab das sich von den anderen abhebt. Es ist neuer, nur wenige Steine liegen auf der Holzkiste. Ein altes Holzschild ohne Schrift steht davor. Durch die breiten spalten des Sargdeckels scheinen die ausgeblichenen Gebeine des Unbekannten. Ich blicke zur alten Funkstation.
Irgendetwas stimmt nicht! Es ist schon lange Nacht, vielleicht einen Monat. Die anderen Beiden sind vor zwei Wochen losmarschiert zum Eingang des Fjords. Wir sahen dort in der Ferne die Lichter des lange ersehnten Schiffes. Es sollte schon vor zwei Monaten, vor Einbruch der Nacht hier sein. Es bringt unsere Verpflegung und Nachschub an Material. Unser Batterievorrat ist fast erschöpft. Einen Tag nachdem sie losmarschiert sind begann das Unwetter. Schnee, Wind, Schnee, Sturm, Schnee. Unvorstellbare Böen packten die Hütte, die Wände knarrten und bogen sich nach innen, die Pritsche wurde von der Wand gedrückt. Ich hatte Angst, dass die ganze Hütte trotz der dicken Drähte mit der sie ab den Felsen verspannt ist einfach weggeblasen wird. Je höher der Schnee lag desto weniger bekam der Wind die Hütte in seine Gewalt. Zuerst war es beruhigend, jedoch packte mich bald die Angst als ich merkte, dass sie nun bald im Schnee versinken würde. Holz und Kohle draussen an der Rückwand waren unerreichbar und mein Vorrat hier drinnen ging zur Neige.
Nach drei Tagen war alles vorbei. Das Ofenrohr schaute offensichtlich noch aus dem Schnee und ich hatte noch einen Rest Holz mit dem ich sparsam umging. Ich begann den Eingang freizugraben. Der Schnee füllte bereits den halben Raum und ich begann schon zu überlegen wohin damit, als ich endlich ins Freie stiess. Eisige Kälte hatte sich über das Land gelegt. -32° Celsius.
Die anderen mussten die Nothütte am Fjordeingang lang vor Einbruch des Sturmes erreicht haben und konnten sich mit dem Nachschub dort gut einrichten, aber mit Ihrer Rückkehr war erst in zwei Tagen zu rechnen, wenn der Fjord zugefroren war und sie mit Schlitten übers Eis konnten. Ich las jeden Tag die Instrumente ab, grub das Brennholz aus dem Schnee und versuchte ohne Erfolg die umgewehte Funkantenne aufzustellen. Und ich warte, seit einer Woche warte ich auf die anderen. Was ist geschehen?
Heute Nacht schneit es wieder und es ist warm geworden, -8°C. Und irgendetwas stimmt nicht. Draussen ist etwas! Es schleicht um die Hütte. Ein Eisbär? Eher unwahrscheinlich. Die sind jetzt draussen an der Küste, am Eis bei den Robben, nicht hier, wo es ausser Schnee nichts gibt um diese Jahreszeit. Die anderen? Ich rufe. Nichts. Ich fange an den Eingang freizugraben, es ist wieder alles zugeweht vom Schnee. Ein Geräusch! Am Ofenrohr. Irgendetwas ist über der eingeschneiten Hütte! Ich rufe, klopfe. Keine Antwort, aber jemand ist da, ich spüre es. Stimmen, sie werfen etwas ins Ofenrohr. Ich begreife – eine Granate. Die letzten Sekunden werden zur Ewigkeit.
Sie haben mich hierhergebracht. Es waren unsere. Im Frühjahr als der Schnee weg war, haben sie mich gefunden. Sie kamen, um zu schauen warum der Funkkontakt unterbrochen war und um endlich Nachschub zu bringen. Die Lichter in der Nacht, es war nicht unser Schiff. Es war ein anderes. Der „Feind“. Sie haben mich hier eingegraben. Der Boden war noch gefroren. Sie sangen ein Lied von Helden. Dann sind sie gegangen. Jetzt liege ich hier zwischen den alten, deren Sprache ich nicht verstehe. Sie reden von Walen und Schiffen aus Holz. Ich denke an mein Funkgerät, das die Wellen in die Unendlichkeit zu den Sternen schickte. Es liegt zerstört zwischen den Steinen. Ich warte auf die Antwort der Sterne. Ich kann die Wellen hören, denke ich und gehe zum Strand, dorthin wo das Schlauchboot liegt.

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